Helium – Producer's Note von Danny Krausz
Als ich das Drehbuch zum ersten Mal las (das Ur-Drehbuch, das sich vom fertigen Film nur in Details, nicht grundlegend unterscheidet), bekam ich das Gefühl, als füllten sich meine Lungenflügel mit Helium und ich flöge durch einen schwerelosen Raum, in dem oberflächliche und abgestumpft standardisierte gesellschaftliche Gepflogenheiten kein Gewicht mehr hätten.
Als Filmproduzent habe ich nicht immer das Privileg, eigene Lebensstandpunkte und Haltungen ins Kino übertragen zu dürfen. In dem vorliegenden Fall aber ist es so. Das hat nicht nur, aber auch mit meiner Herkunft zu tun.
Auf eine andere Art als Deutschland kämpft mein Heimatland Österreich mit seiner Identitätsfindung: Zusammenbruch der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, Umbruch der Zwischenkriegszeit, Genickbruch durch den Zweiten Weltkrieg – aus einem Jahrhundert der Zusammen-, Um- und Genickbrüche ist die Zweite Republik entstanden. Als dieser Staat dann gerade einmal drei Jahre alt war, kam ich als Sohn einer verwaisten Kärntner Bauerntochter und eines jüdischen Heimkehrers in die Welt. In was für eine Welt!
»Hitler war Deutscher, Beethoven Österreicher!« – das ist nicht nur eine Redensart, sondern daran wollte man sich tatsächlich festhalten. Lautstarke Willkommensgrüße hat es beim Einmarsch Hitlers 1938 natürlich nicht gegeben, die Menschenmassen auf dem Heldenplatz waren nur zufällig da, und wenn es doch einmal schüchterne Zeichen des Zuspruchs gab, waren sie eben ein Kolorit »der damaligen Zeit«. Mit dieser Doktrin lernte ich denken und verstand schnell: Bei uns daheim ist wohl alles anders. Ein gefallener Wehrmachtssoldat – der OPA – und eine Auschwitzüberlebende – die OMA – machen das möglich.
In der Pubertät verzieh ich meinem Vater nie, nach Österreich zurückgekommen zu sein. Und ich stellte damit meine Existenz schon deshalb in Frage, verdanke ich diese doch genau dem Umstand der väterlichen Rückkehr – von dem Glück ganz zu schweigen, eine, nein, die beste Mutter auf der Welt bekommen zu haben.
Ich blieb, wie meine Brüder auch, »O.B.«. So stand das in den Schulzeugnissen: »Ohne Bekenntnis«. Eine Formulierung, gegen die ich mich bald wehrte, hielt ich sie doch für eine ungeheuerliche Bevormundung durch die Schulautoritäten. Wer keine Religion hat, kann doch dennoch ein Bekenntnis haben. Richtig? Dieser Stachel jedenfalls ließ mich schnell eine Nähe, Solidarität und Zuneigung für Minderheiten empfinden. Bis heute hält dieses Grundgefühl an und die Tatsache, dass mein Elternhaus Toleranz eine große Bedeutung gab, wird auch nicht wirkungslos gewesen sein.
Der kleine Ausflug zu meinen Wurzeln mag das Helium in der Lunge erklären. Er mag die Empfindungen verdeutlichen, mit denen ich das Drehbuch von Chris gelesen habe.
Meine filmische Biographie ist stellenweise geprägt von dem Bemühen, qualitätvolle Unterhaltung zu produzieren. Ich versuche, die Dinge ernst zu nehmen und relevante gesellschaftliche Themen aufzugreifen. »Im toten Winkel – Hitlers Sekretärin« von André Heller oder jüngst »Der letzte der Ungerechten« von Claude Lanzmann sind Beispiele dafür. Filme, die um Schuld und Nicht-Schuld kreisen und dem manchmal winzigen Spalt dazwischen.
Traudl Junge, die besagte Sekretärin Hitlers, litt lebenslang unter ihrer eigenen Geschichte, qualvoll sogar. Benjamin Murmelstein, von dem Lanzmanns Film handelt, war nahezu sieben Jahre Adolf Eichmanns Untergebener in der »Jüdischen Gemeinde Wien« gewesen. Manchen Menschen half er zu überleben, gleichzeitig musste er andere dafür opfern.
In eine Reihe mit diesen Filmen, die auf ihre Art und in ihrer Zeit durchaus riskant und umstritten waren, weil ihre Protagonisten moralisch keine klare Verortung zuließen, passt auch DIE BLUMEN VON GESTERN, ein Film, der die Menschen aus einem Zwischenraum beobachtet und schildert, aus der Besenkammer zwischen den gut ausgeleuchteten Sälen der Schuld und der Nicht-Schuld. Diese Besenkammer wird in Deutschland, das ist mein Eindruck, nicht gerne betreten. Deutschland hat die Schuld auf sich genommen und ist mit ihr umgegangen, anders als Österreich. Gleichzeitig sind damit aber auch blinde Flecken entstanden. Langzeitfolgen. Deutschland hat sich in eine Moralparalyse verstrickt, die eine reife und vor allem nachhaltige Entwicklung ins Heute vereitelt. Und genau an dieser Stelle setzt die BLUMEN VON GESTERN an.
Ich finde das mutig, richtig und notwendig. Und ich finde, dass Menschen wie die Hauptfiguren Zazie und Toto nach ihrer Façon leben dürfen. Sie müssen mit ihrem Leid – beide sind sie ja alles andere als unbeschwerte Gemüter – genau so umgehen dürfen, wie sie es hier in dieser Geschichte tun: Verdrängend, ehrlich, leicht verstiegen, manchmal banal, ja albern, egozentrisch, aber auch zugewandt, idealistisch und dennoch nicht frei von Berechnung. Sie suchen Liebe und Zuneigung, sind zu beidem bedingt fähig und straucheln im Leben. Wenn wir ihnen helfen, ein Stück weiterzukommen, dann helfen wir uns auch selbst. Und das ist vielleicht das Äußerste, was von einem politisch grundierten Film erwartet werden darf. Nehmen wir also den Protagonisten die Last des Erbes von den Schultern und legen wir sie in den Schoß wahrer gesellschaftlicher Bewältigung! Ja, die kann im Kinosessel beginnen, das mag pathetisch klingen, aber daran glaube ich.
Auf dem Wege der Verordnung, der institutionalisierten und schmerzfreien Sühnemechanik, wird jedenfalls kaum mehr etwas geheilt. Der Nobelpreisträger Imre Kertesz hat kurz vor seinem Tod in einem Interview der Wochenzeitung DIE ZEIT gesagt: »Erst war ich Auschwitz-Insasse, dann habe ich die größten deutschen zivilen Auszeichnungen bekommen, das ist lustig und unerklärbar.« Dass dieses angeblich »Lustige« und »Unerklärbare« mit Bitterkeit einhergeht und zutiefst paradox ist, aber auch gelebtes Leben ein- und Schönheit nicht ausschließt, bringt dieses Buch ebenso wie der Film auf einen zwingenden Punkt.